Von all den Flüchtlingsdramen, die sich im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg abgespielt haben, dürfte alteingesessene Wörgler jedoch jenes der Familie Gottlieb am meisten bewegen. Rudolf Gottlieb wurde 1879 in Miskowitz im Bezirk Tabor (Böhmen) geboren, Elisabeth Sucharipa, 1882 geboren, stammte aus Viehdorf bei Amstetten. Die beiden heirateten im November 1906 in Wien und übersiedelten unmittelbar danach nach Wörgl. Reaktionen auf den ersten Zuzug eines jüdischen Ehepaares sind nicht bekannt, doch erhielt der Vermieter, Martin Singer, da er 1908 eine weitere Wohnung in seinem Haus in der Bahnhofstraße an die evangelische Familie Ostermann vermietete, vom Pfarrer den Vorwurf: „Z'erst nimmst an Juden, und iatz gar no an Protestanten!"
Das Ehepaar Gottlieb begann in Wörgl mit dem Aufbau eines Textilgeschäfts in der Bahnhofstraße. In den folgenden Jahren, noch vor dem Ersten Weltkrieg, kamen ihre drei Kinder auf die Welt: Otto (1907), Erwin (1909) und Irma (1910); alle drei wurden in Wörgl geboren. Die junge Familie konnte sich in Wörgl bald etablieren und ihre Existenz wirtschaftlich und rechtlich absichern. Bereits 1911 kauften sie das Haus in der Bahnhofstraße 21, in dem sie wohnten und ihr Geschäft betrieben und das bald als „Gottlieb-Haus" bekannt war. Im gleichen Jahr berichtete die BH Kufstein anläßlich der geplanten Gründung einer Kultusgemeinde in Innsbruck, daß „die Familie Kultusbeiträge leisten könnte", also relativ vermögend war. Noch während des Ersten Weltkrieges erhielt die Familie Gottlieb schließlich auch das Heimatrecht in Wörgl, das ihr nach zehnjähriger Ansässigkeit zustand und am 5. Oktober 1916 verliehen wurde. Aus dem kleinen Textilgeschäft der Familie wurde ein erfolgreiches Warenhaus:
"Stets große Auswahl in Manufakturwaren, Wäsche, Kurzwaren sowie auch in fertigen Kleidern, Schuhen und Hüten zu äußerst günstigen Preisen" bot Rudolf Gottlieb an. Da das „Warenhaus Gottlieb" allgemein auch „Beim Jud""genannt wurde, hinderte die Bevölkerung aus Wörgl und der Umgebung nicht am Einkaufen. Die Gottliebs hatten vor allem durch ihre soziale Gesinnung einen äußerst guten Ruf: Ärmere Familien wurden, beispielsweise bei der Geburt eines Kindes, beschenkt; mit dem „Armenarzt" Dr. Alois Angeli trafen sie schließlich eine Übereinkunft, derzufolge bedürftige Wörgler mit einer Bescheinigung von Angeli bei Gottlieb günstiger einkaufen konnten.
Die Innsbrucker Arisierungsstelle ließ den Besitz 1938 schätzen und setzte den Kaufpreis fest. Geschäft, Haus und der dazugehörende Grund von mehr als 3000 m2 gingen, wohl vom Wörgler Ortsgruppenleiter Hans Gschöpf vermittelt, schließlich an Ludwig Mehr; er übernahm das Geschäft am 1. November 1938. Wie bei „Arisierungen" üblich, wurde der letztendlich festgelegte Kaufpreis auf ein Sperrkonto eingezahlt; die jüdischen Eigentümer erhielten lediglich ein von der Arisierungsstelle festgelegtes „Wirtschaftsgeld". Rudolf und Elisabeth Gottlieb mußten schließlich eine Generalvollmacht für Herbert Birnbaumer von der Arisierungsstelle ausstellen, der die „Arisierung" ihres gesamten Besitzes abwickelte. Nach mehr als 32 Jahren vertrieb man Rudolf und Elisabeth Gottlieb aus Wörgl; Ab 17. März 1939 waren sie in Wien gemeldet. Seit dem Oktober 1941 wurden die österreichischen Juden schließlich systematisch deportiert. Bis Ende 1941 wurden so rund 49.000 Menschen von Wien aus in Ghettos und Vernichtungslager gebracht. Rudolf und Elisabeth Gottlieb waren unter jenen rund 1300 Menschen, die am 9. Oktober 1942 mit dem Transport IV/13 nach Theresienstadt verschickt wurden.
Das Ehepaar Gottlieb überlebte die katastrophalen Zustände in Theresienstadt nur wenige Monate: Elisabeth Gottlieb starb am 10. Mai 1943, Rudolf Gottlieb am 10. Juni 1943.
Auszug aus dem hervorragend geschriebenen Bericht von Martin Achrainer aus "Wörgl Ein Heimatbuch" Edition Josef Zangerl.