Das Wunder von Wörgl.
Wörgler Freigeld-Aktion 1932/33: Nothilfe mit umlaufgesicherter Regionalwährung
Das Wörgler Freigeld ging als Erfolgs-Story in die Wirtschaftsgeschichte ein und dient noch heute als Vorbild für viele regionale Geld- und Tauschinitiativen. Die Kleinstadt Wörgl wird aufgrund ihrer verkehrsgünstigen Lage nach dem Bau der Eisenbahn Ende des 19. Jahrhunderts zum Industrie- und Gewerbestandort. Italienische Holzhändler ließen sich hier ebenso nieder wie französische Industrielle – wo heute das Egger-Werk steht, war damals die Zellulosefabrik, die Papier für die Pariser Boulevardpresse herstellte. Die 1929 durch einen Börsencrash ausgelöste Weltwirtschaftskrise trifft die Gemeinde sowie umliegende Dörfer hart: Produktionsrückgang, steigende Arbeitslosigkeit, eine Fabrik nach der anderen wird zugesperrt wie das Zementwerk Bruggermühl im benachbarten Kirchbichl mit über 350 Beschäftigten – es wird 1931 geschlossen und nie wieder aufgesperrt. Die Zellulosefabrik entlässt von 410 Beschäftigten rund 400, wenige bleiben zur Bewachung der Anlagen über.
Dazu kommen noch technologisch bedingte Freisetzungen von Arbeitern: Die Bahn stellt ab 1927 auf elektrischen Betrieb um, was 1931 das Ende des Wörgler Heizhauses und 300 Arbeitsplätze weniger bedeutet. Die Arbeitslosenzahlen steigen ständig. In Wörgl sind 1932 von 4.200 Einwohnern 400 Familienerhalter arbeitslos, in der Region verlieren 1.500 Menschen ihre Jobs. Staatliche Unterstützung wird nur wenige Wochen gewährt, danach sind die Gemeinden für das Überleben der Familien zuständig. 200 „ausgesteuerte“ Arbeitslose und ihre Familien müssen mit Unterstützung aus der Armenfürsorge der Gemeinde überleben. Wörgls Bürgermeister Michael Unterguggenberger stand 1931 bereits vor leeren Gemeindekassen. Schulden für einen Schulbau konnten nicht mehr getilgt werden, Steuerrückstände der Wirtschaftstreibenden waren aufgrund des Produktions- und Umsatzrückganges uneinbringlich. Gleichzeitig blieben viele Arbeiten in der Gemeinde unerledigt. Ausdruck dafür war ein Spruch, der in der Bahnhofstraße auf eine Gebäudewand gepinselt war: „Wörgl – das schlimmste deiner Laster ist dein Straßenpflaster“. Michael Unterguggenberger wurde 1931 Bürgermeister durch einen Losentscheid.
Bei der Wahl 1928 waren bürgerliches und sozialdemokratisches Lager gleich stark. Bei Stimmengleichheit entschied das Los zugunsten des Sozialdemokraten. Michael Unterguggenberger kam in Hopfgarten als Kind einer Arbeiterfamilie am 15. August 1884 zur Welt. Als 12jähriger musste er die Volksschule verlassen, um für den Familienunterhalt durch Arbeit im Sägewerk mitzuverdienen.
Er wollte aber unbedingt einen Beruf erlernen und trat in Imst eine Schlosser- und Mechanikerlehre an. Als Geselle ging er wie damals üblich auf die Walz durch das Gebiet der damaligen österreich-ungarischen Monarchie. Er lernte in Schleswig die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung kennen, wurde von ihr politisch geprägt. 1905 trat Unterguggenberger in Wörgl seinen Dienst bei der Eisenbahn als Lokführer an und engagierte sich von da an auch politisch. Er baute die Gewerkschaft von 100 auf 800 Mitglieder auf, wurde 1919 schon Vizebürgermeister und war fortan für die Sozialdemokraten im Gemeinderat und engagierte sich vielfältig im Gesellschaftsleben. Als begabter Musiker brachte sich Unterguggenberger selbst das Spielen mehrerer Instrumente bei, leitete in den 1920er Jahren die Arbeiterjugendmusik und unterrichtete die Jungmusikanten, war zudem Mitglied in vielen Vereinen. 1917 starb seine erste Ehefrau, die Mutter seiner beiden ältesten Söhne. Fünf Jahre später heiratete Michael die Tochter der Künstler-und Unternehmerfamilie Schnaiter. Rosa schenkte drei weiteren Kindern das Leben und Michael die Erfahrung, die Wirtschaft von Unternehmerseite her kennen zu lernen: Rosa eröffnete ihr eigenes Konfektionswarengeschäft und war bei der Durchführung des Freigeld-Experimentes eine wichtige Partnerin. Unterguggenberger interessierte sich für alle sozialreformerischen Ansätze. Er kannte die Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell, die auf den drei Säulen Freigeld, Festwährung und Freiland aufbaut, und die WÄRA - das erste Schwundgeld in Deutschland, mit dem ein Bergwerksingenieur in Schwanenkirchen ab 1930 erfolgreich die Regionalwirtschaft ankurbelte. Zu Pfingsten 1931 besuchte Unterguggenberger mit einer Delegation von Freiwirten den Ort in Niederbayern und gründete im Herbst mit Wörgler Geschäftsleuten eine Freiwirtschaftsgruppe. Der Bürgermeister schlug 1932 der Gemeindeführung vor, ein Infrastrukturbauprogramm zur Schaffung und den Erhalt von Arbeitsplätzen durchzuführen und dieses mithilfe von Freigeld zu finanzieren. Und um den Umlauf des regional gültigen Zahlungsmittels zu beschleunigen und das sonst übliche Horten des Geldes zu verhindern, wurde das Wörgler „Laufgeld“ monatlich mit einem Umlaufimpuls von 1 % des Nennwertes ausgestattet. Als Deckung hinterlegte die Gemeinde den Gegenwert der Arbeitswertscheine in Schilling bei der örtlichen Raiffeisenkasse, um einem Verbot der Nothilfeaktion vorzubeugen. 1931 hatte die Deutsche Reichsbank die WÄRA mit dem Hinweis auf ihr Banknotenmonopol verboten.
Die Arbeitswertscheine deklarierte man damit als Gutscheine auf Geld, die im Wert von 1, 5 und 10 Schilling ausgegeben wurden und deren Wert durch das monatliche Aufkleben von Stempelmarken gesichert wurde. Nachdem die Freiwirtschaftsgruppe Wörgl das Experiment vorbereitet und der Gemeinderat trotz weltanschaulich und ideologisch großer Gegensätze das Reglement 1932 einstimmig beschlossen hatte, startete im Juli 1932 das erste Bauprogramm. Zunächst wurden Straßen repariert, Abwasserkanäle und Straßenbeleuchtungen errichtet, dann folgten Einrichtungen für den Tourismus wie Wanderwege, ein Schluchten-Erlebnissteig und eine Sprungschanze sowie im Frühjahr 1933 ein Gebäude sowie eine Stahlbetonbrücke –damals eine Attraktion, da sonst vorwiegend Holzbrücken gebaut wurden. Gemeindebedienstete und Arbeiter der Bauprogramme erhielten ihren Lohn in Form von Freigeld. Sie konnten damit in den Geschäften einkaufen. Diese trugen damit ihre Steuerschulden bei der Gemeinde ab, bezahlten Abgaben für Wasser und Elektrizität oder örtliche Zulieferer. Der Umlaufimpuls wirkte dabei als Schwungrad – niemand wollte am Monatsende die Scheine besitzen, um nicht die Stempelgebühr zu zahlen. Auch wenn die Gemeinde am Monatsende die Scheine selbst aufwerten musste, war das dem Wohlfahrtsausschuss, der die Aktion abwickelte, sehr recht – durch die Abwertung zirkulierte der Arbeitswertschein viel schneller als das Nationalbankgeld. Das Prinzip: Wenn ich in der Woche einmal 100 Euro ausgebe, habe ich eine Wertschöpfung von 100, gebe ich den Geldschein zwei Mal aus habe ich schon eine Wertschöpfung von 200. Und die Arbeitswertscheine waren neun bis zehnmal schneller unterwegs als die Nationalbankwährung Schilling. Das war dann auch das Erfolgsrezept, dieser rasche Umlauf. Dieses aufgeklebte Markerl war der Motor - lästig für den, der es aufkleben musste, aber genial für die Geldausgabestelle, in dem Fall die Gemeinde, weil das Geld immer sehr schnell zurückfloss und damit wieder Arbeiten erledigt werden konnten. Das lokal gültige Zahlungsmittel blieb im Ort und sorgte für Wertschöpfung und Kaufkraftbindung. Trotz des Schwundprinzipes, mit dem das Freigeld beim Liegen im Lauf der Zeit durch die Abwertung verschwindet - im Gegensatz zum zinsbelasteten Geld, das durch Horten immer mehr an Wert gewinnt – wurden langfristige Investitionsgüter geschaffen: Die Sprungschanzenanlage gibt es heute noch. Die Brücke in die Wildschönau ist in den 1980er Jahren verbreitert worden, auch damals angelegte Wanderwege bestehen teilweise heute noch. Die Arbeitswertscheine konnten für den Zahlungsverkehr außerhalb Wörgls jederzeit in Schilling gewechselt werden, wobei eine Gebühr von 2 % fällig wurde. Um den Außenhandel zu ermöglichen, gab die Raiffeisenkasse aus der Deckung Darlehen zu einem Zinssatz von 6 % an die Geschäftsleute, die damit auswärts Waren einkauften. Sämtliche Einnahmen der Aktion – Klebemarkengebühr, Rücktauschgebühr und Zinseinnahmen – verwendete die Gemeinde zweckgebunden für Armenfürsorge, etwa für den Betrieb der Notstandsküche. Durch die Nothilfe-Aktion wurden durchschnittlich 100 Menschen beschäftigt oder wurden nicht entlassen. Während in Österreich die Arbeitslosigkeit im Zeitraum der Freigeldaktion um 19 % anstieg, ging sie in Wörgl um 16 % zurück. Der Erfolg sorgte international für Schlagzeilen – und rief die Nationalbank auf den Plan, die im Jänner 1933 das Verbot mit Hinweis auf ihr Banknotenmonopol verlangte. Wörgl legte bei Gericht Einspruch ein. Im Mai wollten rund 200 österreichische Gemeinden dem Wörgler Beispiel folgen und forderten das Parlament auf, den gesetzlichen Rahmen dafür zu schaffen. Der Nationalrat war zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits ausgeschalten, Österreich am Weg zu Bürgerkrieg und Diktatur. So wurde das erfolgreiche Wörgler Währungsexperiment im September 1933 am Behördenweg beendet. Wörgls Bürgermeister versuchte über Intervention beim Völkerbund die Fortführung des Währungsexperimentes als Freistaat Wörgl zu erreichen, vergebens. Wörgls erfolgreicher Versuch, die Wirtschaft auf lokaler Ebene wieder in Schwung zu bringen, führte damals zu regelrehtem Freigeld-Tourismus. Volkswirtschafter wie Hans Chorssen, Mitarbeiter des US-Ökonomen Irving Fisher überzeugten sich ebenso wie Frankreichs Ex-Premierminister Edouard Daladier oder der Dichter Ezra Pound von der Wirkungsweise dieses Geldes, das durch den eingebauten Schwund eine andere Dynamik als das herkömmliche Geld entwickelte. Anstatt durch Zinseszins weiter anzuwachsen und das Geldhorten zu belohnen, regt das mit „Liegegebühr“ ausgestattete Freigeld den Geldumlauf an. Damit war es als Tauschmittel für die Realwirtschaft besser geeignet, da es ebenso wie Waren und Dienstleistungen den Wertverlust einprogrammiert hat. Die Freiwirtschaftsbewegung damals forderte eine Umstellung des Geldsystems auf Schwundgeld, die Einrichtung eines staatlichen Währungsamtes zur Sicherung der Geldwertstabilität durch Eichung auf einen Warenkorb sowie eine Bodenreform, um diesen der Spekulation zu entziehen.
Der Unterschied zum regulären Geld liegt beim Freigeld in der Dynamik des Systems. Beim heutigen Geld wie auch beim Schilling damals besteht der Umlaufanreiz aus Zins und Zinseszins. Dieser sammelt sich bei Vermögenden, bei Wenigen. Zinseszins verursacht exponentielles Wachstum, das sich systematisch auswirkt - nach 50 Jahren entsteht eine Schieflage, weil ständig der Zins von unten zu einer Spitze hin umverteilt wird. Das hat der Erfinder des Freigeldes Silvio Gesell erkannt, vor mehr als 100 Jahren. Wenn Geld das Tauschmittel der Wirtschaft ist, könne es nicht anders funktionieren als die Wirtschaft. Mode wird alt, Kartoffeln verfaulen, wird eine Dienstleistung nicht angenommen, muss sie billiger werden. Während in der Wirtschaft real alles zur Abnahme tendiert, steigt nur der Geldwert ständig und mit den Jahren öffnet sich die Schere – zwischen Real- und Geldwirtschaft, zwischen Arm und Reich. Die Wirtschaft kann mit zinseszinsbelastetem Schuldgeld, das unendliches Wachstum benötigt, nicht stabil sein - deshalb schlug Gesell vor, das Geld so organisiert sein soll wie die Realwirtschaft. Das heißt, nicht Geldhorten mit Zinsen belohnen, sondern das Geld besteuern.
Der Umlaufimpuls, der Anreiz ist bei Gesell eine monatliche Steuer – so bleibt das Geld im Kreislauf. Ziel eines Staates, einer Volkswirtschaft müsse dabei Geldwertstabilität sein – weder Inflation, noch Deflation. Diese Festwährung solle durch ein staatliches Währungsamt, das die Geldmenge an realen Wirtschaftsgütern eicht, gewährleistet werden. Und um den unvermehrbaren Boden der Spekulation zu entziehen, schlug Gesell eine Bodenreform vor. Kommunen sollten bei Grundverkäufen oder Erbschaften ein Vorkaufsrecht erhalten, den Grundeigentümer entschädigen. Grundpachterträge sollten dann als „Mutter-Rente“ an Frauen mit Kindern ausbezahlt werden.
In Wörgl wurde von Gesells Theorie nur das Freigeld umgesetzt – aber nicht als einziges, sondern als zusätzliches, ergänzendes und nur lokal gültiges Zahlungsmittel. Wörgl taugt nicht als Beweis für die Freiwirtschaft, zeigt aber, wie Spielregeln des Geldsystems zugunsten gemeinschaftlicher Ziele auf kommunaler Ebene verändert werden können. In einer Zeit von Hunger, Not und Armut ermöglichte der beschleunigte Geldumlauf Konsum und damit das Überleben. Die heutige Industrie mit bewusst kurzlebig erzeugten Produkten, die in Europa schon jetzt einen Ressourcenverbrauch von drei Planeten, in den USA von fünf Planeten verursacht, macht noch mehr Konsum fragwürdig. Umlaufgesicherte Zahlungsmittel ergeben dort Sinn, wo wir Wachstum wünschen – etwa in der biologischen Landwirtschaft, in der Betreuungsqualität von älteren Menschen und Kindern oder bei der Umstellung auf erneuerbare Energie. Hier lassen sich mit Bürgerbeteiligung sinnvolle Einsatzgebiete für „Laufgeld“ erschließen.
Autor: Veronika Spielbichler